Leidenschaften


 

Ein Leben zwischen Leidenschaft und Vernunft

Wir können mehrere Hobbys haben. Aber Leidenschaften?
Mit dem Synonym Passion wird eigentlich genauer ausgedrückt, worum es
Bei den Leidenschaften geht:  Konnotationen von Passion lassen ein Dulden, Erleiden stärker anklingen  als die deutsche Wortbedeutung  psychische Zustände dieser Art zum Ausdruck bringen kann. Tiere leiden an dem, was ihnen vorenthalten ist: Die Befriedigung von Hunger und Durst, von Trieben, von Bewegungsfreiheit. Wie beim Menschen kann der Stau auch bei Tieren Aggressionen auslösen. Aber nur der Mensch leidet an seiner Leidenschaft für einen anderen Menschen oder für eine Sache. Eine Passion ist immer eine gesteigerte Form von Hingabe, welche die stärksten Kräfte entfachen und in Atem halten, sich aber auch in Aggression äußern kann. Als „agonale Tugend“ (Konrad Lorenz) ist sie kulturell überformt und dient auch  der Arterhaltung unserer Spezies.

Meine Leidenschaften sind JAGD  und  WISSENSCHAFT

In früher Jugend beherrschte die leidenschaftliche Hingabe an die Jagd auf Wild fast ganz meine Erlebenswelt bis  der reifer werdende Jüngling sich zunehmenden Triebstrebungen seiner Vitalnatur ausgesetzt sah. Ich versuchte häufig zu verbinden, was nicht zusammen gehört, und Eros ließ mich wie von Engelshand geführt in die unermesslichen Tiefen beider Emotionen leidenschaftlich versinken.

In der Zeit von Sturm und Drang meines Lebens  vollzog sich bei der Jagd wie bei der Liebe eher alles nach dem Diktum von Immanuel Kant: „Alle Gefühle, vornehmlich die, so ungewohnte Anstrengungen bewirken sollen, müssen in dem Augenblicke, da sie in ihrer Heftigkeit sind und ehe sie verbrausen, ihre Wirkung tun, sonst tun sie nichts!“
Unabhängig von meinen Lebensepisoden, vom jeweiligen Lebensalter war ich immer von der Gewissheit durchdrungen, dass höhere Leistungen gleich auf welchem Felde immer auch des Ansturms von Passion bedürfen: Die Fähigkeit zum Aufgehen in einer Aufgabe setzt Hingabe voraus. Ein Tätigsein mit Hingabe ist immer von Leidenschaft begleitet.          

Geistige Reife nahm Abstand vom Ungestümen der Lust und kultivierte die Jagdleidenschaft zur Bedingung der Möglichkeit von Moralität des Handelns. Jäger nennen diese ihr Jagdethos ausbildende Bezugsgröße auch Waidgerechtigkeit.
„Im Bannkreis der Jagd“ heißt der Titel meines Buches (Avant-Verlag München-Bonn), das ich mit Blick auf beide Leidenschaften über die Episoden und Methoden meiner  Sozialisation verfasst habe. Erziehung zur Disziplin und Selbstbeschränkung im humanistischen Geiste prägte zwischen Zwang und Freiheit zugleich  meinen Charakter in der zielorientierten Gewissheit pädagogisch wohlwollender Hand: Wenn der Sozialisant tut, was er soll, dann kann er nicht machen, was er will bzw. umgekehrt. Bildung erfordert Vorbild. Vorbilder der Erziehung bedürfen der Güte und Strenge zugleich.

Wer überhaupt begreift, wie Triebenergien des Organismus beim Menschen durch gelegentlichen Triebverzicht zu höheren Formen menschlicher Existenz führen können, ohne sofort Moralität und Sozialität reklamieren zu müssen, der versteht auch  die  Lust steigernde  Wirkung weiblichen Kokettierens mit der Sache des qualitativen Erlebens durch emotionale Kumulierung, die den eigentlichen Kern von Erotik bildet.
Zur WISSENSCHAFT als Gegenstand  meiner Leidenschaft  erwachsen werdender Personalität gelangte ich wie Nikolaus von Kues  (in: de venatione sapientiae)  zur Erkenntnis der Wahrheit, näher hin zur Erfahrung Gottes: De praeda capta.
Erst spät freilich, erst mit dem Studium der Philosophie und Psychologie  und folglich mit weiter entwickelter geistiger Reife sah ich mich plötzlich von der Frage nach der Natur der Natur des Menschen  im Sinne philosophischer Anthropologie und Kulturevolution emotionalisiert. Die über tausende Generationen genetisch in unseren Gehirnen fundierte Struktur eines naturalen Jagdschemas, eines quasi tierischen Instinktschemas mutierte mit freilich entsetzlichen Rückschlägen, die wir bis heute wahrnehmen können (z.B. das Balkanproblem Tito post), zu einem kognitiven Handlungsschema.

Mich beeindruckte Ernst Jüngers Bekenntnis zum Verbrechen, das in uns allen irgendwie evolutiv gesteuert behaust ist und das uns ebenso zum Handeln veranlassen kann wie die sublimen Formen kultivierter Motivbildung unser Tun mit affiliativen Trieben  anspornen. Die Nähe zwischen der Übermacht des Teufels und des Engels zu gleicher Zeit in uns kann nicht geleugnet werden. Ich neige deshalb schon immer dazu, mich Jüngers Sichtweise zur Verbrechensgenese anzuschließen:
„Das beruht darauf, dass das Verbrechen sich im gleichen Maße steigert, in dem es, aus dem Tierischen aufsteigend an Geist gewinnt.  Im gleichen Maße verschwinden auch die Indizien. Die größten Verbrechen beruhen auf Kombinationen, die logisch gesehen, dem Gesetz überlegen sind. Auch verlagert sich das Verbrechen immer mehr von der tat auf das Sein, um Stufen zu erreichen, auf denen es als abstrakter Geist  in der reinen Erkenntnis lebt. Schließlich wird das Böse um des Bösen willen getan. Das Böse wird zelebriert.“

Wer unter dieser Folie die skandalösen Ursachen der jüngsten Weltfinanzkrise zu entdecken trachtet, der könnte sehr erfolgreich sein, meine ich. Liegt doch die Kultur, wie uns die Neurowissenschaften, die Hirnforschung und Genetik immer eindrucksvoller vermitteln, wohl bloß wie Firnis über unseren Trieben, über Formen naturwüchsiger Determiniertheit.

Mich fasziniert also die wissenschaftliche Chance zu ergründen, worin der kategoriale Unterschied zwischen Tier und Mensch besteht und ob er überhaupt besteht. Mit Immanuel Kant bin ich überzeugt, dass es nicht der Verstand ist, den wir (qualitativ bloß) dem Tier voraus haben.  Aber Vernunft? Die reine Vernunft ist, wie wir seit Kant wissen, reine Metaphysik. Der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichtet   liegt eine leidenschaftlich angetriebene Spannung in meinem Gemüte, die das Dilemma Freiheit versus Determiniertheit im wissenschaftlichen Diskurs der Neurowissenschaften, der Hirnforschung und Genetik einem erkennenden Wissen zuführen will. Ich wäre dem Weltcharakter meiner Umwelt, der sozialen, naturalen und wissenschaftlichen nicht gewachsen, wenn ich nicht imstande wäre, meine Freiheit zu verlieren, um im Aufschwung der Ergriffenheit an der Maßlosigkeit  ihres Seins teilhaben zu können.